Die Eigenproduktionen bzw. „Originals“ von Streaming-Diensten wie „Netflix“ oder „Prime Video“ gelten mit prominenten Beispielen wie „House of Cards“, „Orange Is the New Black“ oder auch „Transparent“ als Impulsgeber der aktuellen Serienlandschaft. Gerne werden diese Serien gegen die ‚gewöhnliche‘ Fernsehunterhaltung abgegrenzt, indem ihnen eine besondere Originalität und Kreativität zugeschrieben wird, sowohl bezüglich der narrativen Strukturen, als auch in Hinblick auf die Verhandlung der Inhalte. Dieser Diskurs erinnert an die enthusiastische Rede vom „Quality TV“ um die Jahrtausendwende, die Serien des US-amerikanischen pay-TV (z.B. HBO oder amc) wie „The Sopranos“, „The Wire“ oder „Mad Men“ zu Werken literarischer Komplexität erhöhte.
Besonders ein gesellschaftliches und kulturelles Element war stets zentraler Aspekt serieller Erzählungen und wird auch in Video-on-Demand-Serien weiterhin häufig verhandelt: Das Zusammenleben in der Familie oder in familienähnlichen Strukturen. Dabei sind diese Verhandlungen insoweit von Relevanz, da sie zum einen gesellschaftliche (Ideal-)Vorstellungen von Familie abbilden und auch als Maßstab für die eigene Lebensrealität fungieren. Zum anderen werden Familien hier oft zu verkleinerten Abbildern der Gesellschaft und somit zum Verhandlungsort bedeutsamer Paradigmen und geltender Normen und Werte.
Hinsichtlich der Familienmodelle, die Online-Serien entwerfen, ergeben sich nun Fragen wie: Inwieweit reflektiert der massenmediale Umgang mit einer – gesellschaftlich so essenziellen – Thematik den tatsächlichen Umgang der modernen Gesellschaft mit der Familie? Wird Familie als einengendes Gefängnis wahrgenommen oder eher als Schutzraum vor äußeren Bedrohungen? Welche Paradigmen werden in diesen Serien an den familiären Diskurs zentral angelagert? Und vor allem auch: Findet hier tatsächlich die vermutete Innovation statt oder handelt es sich nur um die Fortsetzung bekannter Linien – sozusagen um alten Wein in neuen Schläuchen?
Im Seminar sollen auf Basis dieses Fragenkatalogs nun vorausgewählte „Netflix“- und „Prime Video“-Originals in Hinblick auf ihre Modellierung von Familie untersucht werden.
In den ersten beiden Sitzungen wird es zunächst einen thematischen Input geben. Zudem wird exemplarisch die Analyse der ersten Staffel des Netflix-Originals „Ozark“ nachvollzogen. Hier werden auch Fragestellungen und Leitlinien für Ihre Analyse entwickelt und schließlich die zu analysierenden Formate vorgestellt. Diese beiden einführenden Sitzungen erfolgen als Blockveranstaltung für alle Teilnehmenden des Seminars (Gruppe 1, 2 und 3) zusammen.
Die folgenden wöchentlichen Termine finden für jede Gruppe separat statt. In Kleingruppen untersuchen die Teilnehmenden des Seminars je die erste Staffel „ihrer“ Serie in Hinblick auf die Modellierung von Familie. Die Ergebnisse werden in wöchentlichen Sitzungen vorgestellt, diskutiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Diese Ergebnisse bilden die Basis für die Prüfungsleistung (Hausarbeit oder mündliche Prüfung – je nach StuPo).
Zum vollständigen Verständnis des analytischen Teils, bitte ich darum, vor Beginn der zweiten Sitzung, die erste Staffel der Serie „Ozark“ anzuschauen – eine vertiefte Vorbereitung ist hier nicht vonnöten.
Zudem sind grundlegende Kenntnisse der Text- bzw. Filmanalyse vonnöten, wie sie u.a. dargelegt werden in:
Gräf, Dennis et al 2014: „Filmsemiotik. Eine Einführung in die Analyse audiovisueller Formate“. Marburg [zuerst 2011].
Literatur zum seriellen Erzählen:
Hickethier, Knut 1991: „Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens“. Lüneburg.
Krah, Hans 2010. „Erzählen in Folge. Eine Systematisierung narrativer Fortsetzungszusammenhänge“, in: Schaudig, Michael (Hg.): „Strategien der Filmanalyse – reloaded. Festschrift für Klaus Kanzog“. München, S.85-114.
Schleich, Markus/Nesselhauf, Jonas 2016: „Fernsehserien. Geschichte, Theorie, Narration“. Tübingen.
Literatur zur Familienserie:
Coontz, Stephanie 1992: „The way we never were. American families in the nostalgia trap“. Philadelphia [Neuauflage 2016].
Bryant, Jennings/ Bryant, Alison J. (Hg.) 2001: „Television and the American Family“. Mahwah.
Decker, Jan-Oliver/Krah, Hans/Wünsch, Marianne 1996: „Das Wertesystem der Familienserien im Fernsehen“. Kiel.
Literatur zu Netflix:
McDonald, Kevin/Smith-Rowsey, Daniel: “The Netflix Effect. Technology and Entertainment in the 21st Century”. New York, S.81-97.
Madrigal, Alexis. C 2014: „How Netflix Reverse-Engineered Hollywood”, in: „The Atlantic“ vom 02.01.2014.
URL:
https://www.theatlantic.com/technology/archive/2014/01/how-netflix-reverse-engineered-hollywood/282679/