Universität Passau
41640 Hauptseminar: Digitalisierung und Gesellschaft. Aus aktuellen Gegebenheiten mit zusätzlicher Schwerpunktsetzung auf die Corona-Krise - Details
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Allgemeine Informationen

Untertitel
Veranstaltungsnummer 41640
Semester SoSe 20
Aktuelle Anzahl der Teilnehmenden 6
erwartete Teilnehmendenanzahl 20
Heimat-Einrichtung Lehrstuhl für Digital Humanities
Veranstaltungstyp Hauptseminar in der Kategorie Lehre (mit Prüfung)
Erster Termin Mi., 22.04.2020 14:00 - 16:00 Uhr
Art/Form
Voraussetzungen
Computer mit Internetzugang, Webcam und Mikrophon; Lektüre, Präsentation, Teilnahme am Seminargespräch
Leistungsnachweis
Hausarbeit
SWS
2
Exkursionstage
keine
Hinweise zur Anrechenbarkeit
Anrechenbar für B.A. Historische Wissenschaften
Sonstiges
Dozent: Markus Gerstmeier, M. A.
ECTS-Punkte
10

Veranstaltungsort / Veranstaltungszeiten

k.A. Mittwoch: 14:00 - 16:00, wöchentlich(14x)

Studienbereiche

Kommentar/Beschreibung

UPDATE 2. APRIL 2020: Aktuell hat die globale COVID-19-Pandemie binnen weniger Wochen einen Ausnahmezustand bewirkt, wie es ihn in der westlichen Welt seit vielen Jahrzehnten – in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949, also seit deren Gründung – nicht gegeben hat. Er (be-)trifft fast alle Bereiche auch des gesellschaftlichen Lebens. Angesichts dessen soll das Hauptseminar „Digitalisierung und Gesellschaft“ im Sommersemester 2020 um einen stark diskursiv ausgerichteten Schwerpunkt erweitert werden. Darin werden wir Fragen aufgreifen, die sich für uns als Angehörige der Universität und der Philosophischen Fakultät sowie als historisch ausgerichtete Digital Humanists aus der gegenwärtigen Lage ergeben. Auf diese Weise wollen wir als Akademiker auch einen Beitrag zur intellektuellen und gesellschaftlichen Bewältigung der Krise leisten. Das ursprünglich angedachte Seminarthema wird dabei nicht nur beibehalten, sondern es ist angesichts der neu entstandenen Ausnahmesituation sogar noch relevanter geworden, es erfährt die Ergänzung um ein sich in Echtzeit vollziehendes Anschauungs- und Untersuchungsobjekt: Denn in vielen von der Krise betroffenen und mit dieser befassten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – vom Bildungs- und Kulturbereich über die Geschäftswelt bis hin zur konkreten Bekämpfung der Pandemie – erweist sich die Digitalisierung als Chance von einer nochmals ganz neuen Kategorie; Homeoffice und digitaler Unterricht sind Beispiele dafür, die übrigens in unserem Hauptseminar in konkreter Reaktion auf den Ausnahmezustand nicht nur als Objekt, sondern auch selbst aktiv zum Einsatz kommen werden. Mit seiner betont historisch-kritischen Grundhaltung wird das Hauptseminar aber auch problematisieren, wie sich zugleich gerade jetzt in verschärfter Weise Grenzen und Risiken der Digitalisierung zeigen.

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URSPRÜNGLICHES SEMINARKONZEPT:
Nicht nur die Definitionen aktueller tages- und parteipolitischer Agenden erkennen in der Digitalisierung – neben und in Verbindung mit der Globalisierung und sich abzeichnenden Klimakatastrophen – eines der entscheidenden Phänomene der Gegenwart und der absehbaren Zukunft (allein im Koalitionsvertrag der amtierenden deutschen Bundesregierung vom 12. März 2018 fällt auf 175 Seiten 99-mal das Wort „Digitalisierung“ und 199-mal das Adjektiv „digital“). Auch im Wirtschaftssystem, in Bildung und Wissenschaft sowie ganz allgemein in der alltäglichen „Lebenswelt“ (Edmund Husserl) der westlichen (Post-)Moderne stellt die „digitale Revolution“ einen wesentlichen Aspekt des makro-, meso- und mikrosozialen Zusammenlebens der Menschen und von dessen beschleunigtem Wandel dar; nicht zu Unrecht wird sie gemeinhin als Chance und Herausforderung zugleich, mitunter auch als Bedrohung begriffen – auf dem längst grenzenlosen Arbeitsmarkt ebenso wie für unsere Zivilgesellschaft, für die freiheitlich-demokratisch verfassten, rechtsstaatlichen Ordnungen von Gemeinwesen europäischer und nordamerikanischer Prägung ebenso wie in Systemen unter der Gewalt autoritärer, totalitärer oder diktatorischer Regime; nicht zuletzt ist die Rolle der Digitalisierung für den Klimawandel kaum zu überschätzen. Freilich ist die Digitalisierung keine völlig neue Erscheinung der letzten Jahre; sie kann vielmehr auf eine bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, in gewisser Hinsicht sogar ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte blicken. Der Münchener Soziologe Armin Nassehi hat jüngst postuliert, dass die Digitalisierung mit ihren historischen Folgen weniger eine bahnbrechende Revolution ist als vielmehr ‚nur‘ eine weitere evolutionäre Erscheinungsform wissenschafts- und technikbasierter, fortschrittsorientierter moderner Gesellschaftssysteme.

Das Hauptseminar möchte den für die globale gesellschaftliche Gegenwart und Zukunft so zentralen Sachverhalt der Digitalisierung interdisziplinär aus verschiedenen Perspektiven beleuchten, kontextualisieren und kritisch hinterfragen, nämlich zunächst historisch unter den Blickwinkeln der politischen Geschichte, der Bildungs-, Wissenschaft-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte, sich dem Forschungsobjekt außerdem soziologisch, ökonomisch, juristisch und politisch annähern; schließlich wird in philosophischer Hinsicht nach epistemologischen und ethischen Aspekten der Thematik zu fragen sein. Dabei sollen u. a. neuere einschlägige Debattenbeiträge ebenso wie für das Seminarthema relevante klassische Texte gelesen und diskutiert werden. Auf dieser Grundlage wollen wir auch Ansätze zu der weiteren konzeptionellen Formierung unserer eigenen disziplinären Denomination durchdenken: „Digital Humanities“ sind nicht nur ‚Geisteswissenschaften unter Zuhilfenahme von IT‘; schon allein weil die Digital Humanities weit mehr als andere etabliert-institutionalisierte geistes- und gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen ein fundamentales Verständnis der digitalen Techniken und Verfahren in ihre Forschungspraxis implementieren, ist es umgekehrt in besonderem Maße an ihnen, die humanistisch-aufgeklärte Idee des individuierten, freien Menschen mit den exklusiv ihm eigenen Fähigkeiten, seiner spezifischen Würde und den ihm gebührenden Rechten und Pflichten auch in der „digitalen Ära“ als dem potentiell nächsten „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) von Neuem als Maßstab gesellschaftlicher Wirklichkeit wissenschaftlich zu begründen, auszuformulieren und an der Schaffung eines diesbezüglichen öffentlichen Bewusstseins aktiv mitzuwirken.

LEKTÜRE (in Auswahl):
Rüdiger Bergien: Programmieren mit dem Klassenfeind. Die Stasi, Siemens und der Transfer von EDV-Wissen im Kalten Krieg, in: VfZ 67,1 (2019), S. 1–30; Michael Betancourt: The Critique of Digital Capitalism. An Analysis of the Political Economy of Digital Culture and Technology, Brooklyn, N. Y., 2015; dt.: Kritik des digitalen Kapitalismus (übers. von Manfred Weltecke), Darmstadt 2018; Timothy Garton Ash: Free Speech: Ten Principles for a Connected World, London 2016; Yuval Noah Harari: Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen (übers. von Andreas Wirthensohn), 10. Aufl., München 2019; Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert (übers. von Andreas Wirthensohn), 3. Aufl., München 2019; Ulrich Hemel: Kritik der digitalen Vernunft. Warum Humanität der Maßstab sein muss, Freiburg i. Br. / Basel / Wien 2020; Yvonne Hofstetter: Das Ende der Demokratie. Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt, München 2016; Ivan Illich: Tools for conviviality, New York u. a. 1973, dt.: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik Aus dem Engl. von Ylva Eriksson-Kuchenbuch, 3. Aufl., München 2014; James Lovelock: Novacene. The Coming Age of Hyperintelligence (with Bryan Appleyard), Cambridge, Massachusetts / London 2019; dt.: Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz. Aus dem Englischen von Annabel Zettel, München 2020; Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019; Adrian Lobe: Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis, München 2019; Julian Nida-Rümelin / Nathalie Weidenfeld: Digitaler Humanismus. Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, München 2018; Andreas Rödder: 21.0 – Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015; Frank Schirrmacher (Hg.): Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte, Frankfurt am Main 2015; Frank Schirrmacher: Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, München 2009; Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert, München 2018; Joseph Weizenbaum: Computer Power and Human Reason. From Judgement to Calculation, San Francisco 1976; dt.: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft (übers. von Udo Rennert), 14. Aufl., Frankfurt am Main 2018; Katharina Zweig: Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl. Wo künstliche Intelligenz sich irrt, warum uns das betrifft und was wir dagegen tun können, München 2019.

LITERATURHINWEISE SPEZIELL IM KONTEXT DER COVID-19-KRISE: John Schellnhuber: Die Seuche im Anthropozän, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 89, 16. April 2020, S. 9; Tristan Barczak: Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft ⇐ Jus Publicum 288), Mohr Siebeck, Tübingen; erscheint im Mai 2020.