Universität Passau
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Sehr geehrter Herr Professor Riehm,

mir hat sich in der Klausurvorbereitung die Frage gestellt, was genau es nochmals mit der Leistungs- und Gegenleistungsgefahr auf sich hat. Mir ist bewusst, dass es dabei nur um den Untergang, nicht um die Verschlechterung von Sachen geht. Aber auf welchen Zeitpunkt stellen diese Gefahrtragungsregeln ab, wo in der Fallprüfung werden sie relevant und welche Auswirkungen haben diese auf die Gewährleistungsrechte, insbesondere die Nachlieferung und die diesbezüglichen Verweigerungsrechte des Verkäufers?

Vielen Dank!

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Anonym
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Guten Tag,
vielen Dank für Ihre Frage, die gleich ein ganzes Fass an Fragen enthält. Ich versuche es mit einer schrittweisen Antwort:
- Die Leistungsgefahr beschreibt die Gefahr des Schuldners/Verkäufers, noch einmal leisten zu müssen, falls die Sache untergeht, und umgekehrt die Gefahr des Gläubigers/Käufers, die Sache nicht zu erhalten, wenn sie untergeht. Für Stückschulden ergibt sich aus § 275 I BGB, dass der Gläubiger sie trägt; für Gattungsschulden folgt aus § 243 II BGB, dass grundsätzlich der Schuldner sie trägt, bis er alles seinerseits erforderliche zur Leistung einer Sache mittlerer Art und Güte getan hat; danach geht sie auf den Gläubiger über.
- Die Gegenleistungsgefahr baut auf der Leistungsgefahr auf, denn sie stellt die Frage, ob der Gläubiger der Sachleistung die Gegenleistung bezahlen muss, ohne die Sache zu erhalten. Das setzt voraus, dass die Leistungsgefahr schon auf ihn übergegangen ist, denn andernfalls stellt sich die Frage nicht, weil er ja noch einen Anspruch auf die Sache hat. Grundsätzlich bestimmt hier § 326 I BGB, dass der Schuldner der Sachleistung (Verkäufer) die Gegenleistungsgefahr trägt: Kann er nicht leisten, bekommt er auch kein Geld. Hier gibt es zahlreiche Tatbestände, die den Übergang der Gegenleistungsgefahr auf den Sachleistungsgläubiger/Käufer regeln: § 446 BGB für die Übergabe der Sache, § 447 BGB für die Übergabe an die Transportperson (außer beim Verbrauchsgüterkauf, § 475 II BGB), § 326 II BGB für den Annahmeverzug des Käufers, und zahlreiche weitere Regeln für andere Vertragstypen.
- Zusätzlich knüpft auch das Gewährleistungsrecht im Kaufrecht daran an, dass der Mangel "bei Gefahrübergang" vorliegen muss, um die Gewährleistungsrechte des § 437 BGB auszulösen. Damit ist zunächst gemeint, dass später (=im Risikobereich des Käufers) eintretende Mängel keine Gewährleistungsrechte auslösen (beim Verbrauchsgüterkauf aufgeweicht durch die Vermutungsregel des § 477 BGB, die aber nichts am Grunsatz ändert). Damit markiert der Gefahrübergang auch die Zäsur zwischen der Anwendbarkeit des allgemeinen Leistungsstörungsrechts (Erfüllungsanspruch aus § 433 I 1 BGB, Grenze nur § 275 II BGB, Sekundärrechte aus §§ 281, 323 BGB, Verjährung gem. §§ 195, 199 BGB) und der Anwendbarkeit des Gewährleistungsrechts (Nacherfüllungsanspruch aus §§ 437 Nr. 1, 439 BGB,  Grenze in § 439 IV BGB, Rücktritts- und Minderungsrecht aus §§ 437 Nr. 2, 323, 441 BGB, Schadensersatz aus §§ 437 Nr. 3, 280 ff. BGB, Verjährung gem. § 438 BGB).
Diese Zäsur wird von einer in der Lit. vertretenen Auffassung zeitlich geringfügig verschoben, weg vom Gefahrübergang hin zur Annahme der Kaufsache "als Erfüllung" (§ 363 BGB), um dem Käufer zu ermöglichen, die Kaufsache zu prüfen und umgehend zurückzuweisen, ohne schon im Gewährleistungsrecht zu landen (insoweit parallel zu § 377 HGB).
- Und zuguterletzt: Bei der Lieferung einer mangelhaften Gattungssache kann es im technischen Sinne keinen Gefahrübergang geben, denn es fehlt schon am Übergang der Leistungsgefahrt (keine Sache mittlerer Art und Güte gem. § 243 I, II BGB), sodass sich die Frage nach dem Übergang der Gegenleistungsgefahr gar nicht stellen kann. Da aber ganz offensichtlich trotzdem das Gewährleistungsrecht Anwendung finden muss, geht die hM hier vom "fiktiven Gefahrübergang" aus, bezieht sich also auf den Zeitpunkt, zu dem die Gefahr übergegangen wäre, wenn die Sache mangelfrei gewesen wäre.
Ich hoffe, das klärt Ihre Fragen.
Beste Grüße
Prof. Dr. Thomas Riehm

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riehm01
Offline Prof. Dr. Thomas Riehm
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