Universität Passau
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Anonym 06.01.2022, 12:16
Ilias-Fall K4
Sehr geehrter Herr Prof. Riehm,
Als ich heute den Fall K4 (BGH v. 08.01.2019 – VIII ZR 225/17) durchgearbeitet habe, habe ich mich beim Ansehen ihres Lösungsvideos gefragt, wie denn die absolute und grobe Unverhältnismäßigkeit nach der neuen Rechtslage zu beurteilen wäre (da auf Ilias nichts zu dieser Änderung steht) - In Ihrer Lösung war es noch so, dass §475 IV den Rückgriff darauf verbot, dieser Absatz wurde ja nun jedoch gestrichen . Bedeutet das, dass die Einrede nun "durchgehen" würde? (Jedenfalls wenn man bezüglich des Bezugszeitpunkts dem BGH folgt?) Dann hätte sich hier doch die Verbraucherstellung bei der Schuldrechtsreform verschlechtert.
Außerdem wollte ich fragen, woher man allgemein die Unterscheidung in relative, absolute und grobe Unverhältnismäßigkeit nimmt? Ich habe das zuvor noch nie so gesehen und würde mich sehr freuen, wenn Sie vielleicht kurz die einzelnen "Arten" erklären könnten?
Dankeschön!
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Anonym
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Guten Tag,
vielen Dank für Ihre Fragen!
Zunächst allgemein zur Unterscheidung der verschiedenen "Unverhältnismäßigkeiten": Die absolute und relative Unverhältnismäßigkeit sind direkt (wenngleich nicht mit dieser Terminologie) im Gesetz geregelt und unterschieden, und zwar in § 439 IV BGB. Sie unterscheiden sich zunächst nur in dem, was verglichen wird: Die relative Unverhältnismäßigkeit vergleicht Nachbesserung und Nachlieferung miteinander (§ 439 IV 1, 2, 3 Hs. 1 BGB), die absolute Unverhältnismäßigkeit vergleicht den Aufwand für die Nacherfüllung (gleich ob Nachbesserung oder Nachlieferung) mit dem Mangel und dem Wert der mangelfreien Sache (§ 439 IV 1, 2, 3 Hs. 2 BGB). Der genaue Maßstab der Unverhältnismäßigkeit (also: welches Verhältnis zwischen den beiden zu vergleichenden Größen die Einrede auslöst), sollte nach dem Gesetzeswortlaut theoretisch der gleiche sein, da er sich jeweils aus § 439 IV 1 und 2 BGB ergibt. Da aber unterschiedliche Dinge miteinander verglichen werden (und überdies wegen der Berücksichtigung immaterieller Nachteile für den Käufer) ohnehin kein Zahlenverhältnis angegeben werden kann, lässt sich der Maßstab auch nicht fix quantifizieren, und dementsprechend auch nicht sagen, ob es nun der gleiche Maßstab ist oder nicht.
Davon zu unterscheiden ist das "grobe Missverhältnis" zwischen Leistungsaufwand und Gläubigerinteresse gem. § 275 II BGB. Hier wird verglichen, ob der "Gewinn" des Gläubigers durch die Erfüllung der Leistungspflicht (zB die Nacherfüllungspflicht) den Leistungsaufwand des Schuldners "wert" ist. Strukturell ist das der Prüfung bei der absoluten Unverhältnismäßigkeit vergleichbar ("lohnt sich die Nacherfüllung"?). Nach hM ist der Maßstab bei § 275 II BGB jedoch strenger als bei § 439 IV 3 Hs. 2 BGB, die Schwelle für die Einrede soll also höher liegen. Abgesehen von § 475 IV 1 BGB aF, der die Einrede der absoluten Unverhältnismäßigkeit im Verbrauchsgüterkauf ausschloss, ist § 275 II BGB dadurch in diesem Verhältnis praktisch obsolet, weil der Verkäufer immer schon die Einrede der absoluten Unverhältnismäßigkeit aus § 439 IV 3 Hs. 2 BGB hat, bevor die Schwelle zur Einrede des groben Missverhältnisses aus § 275 II BGB erreicht wird.
Was den Fall VIII ZR 225/17 anbelangt, könnte man die Einrede der absoluten Unverhältnismäßigkeit nach der Streichung des § 475 IV 1 BGB aF tatsächlich gewähren. Der BGH hatte bisher noch keine Gelegenheit, sich dazu zu positionieren - auch die zu dieser Frage ergangenen jüngeren vier Entscheidungen vom (VIII ZR 275/19, 118/20, 254/20 und 357/20) betrafen sämtliche Verbrauchsgüterkäufe nach alter Rechtslage, bei welchen die Einrede der absoluten Unverhältnismäßigkeit nicht anwendbar war. Der BGH hat hier andere Wege gefunden, die Belastungen für den Verkäufer zu reduzieren (zeitliche Beschränkung des Nachlieferungsanspruchs; etwaige Zuzahlung des Käufers zur Nachlieferung). Deren Berücksichtigung könnte auch die Einrede der absoluten Unverhältnismäßigkeit ausschließen. Hier käme es im "Ernstfall" einer Klausur ganz auf Ihre Argumentation an - beide Ergebnisse wären vertretbar.

Beste Grüße
Prof. Dr. Thomas Riehm

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