Universität Passau
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Anonym 20.07.2023, 06:30
Einstieg in die Fallprüfung

Sehr geehrter Herr Professor Riehm,

hätten Sie einen Tipp, wie man am besten vorgeht, wenn in der Fallfrage nach gegenseitigen Ansprüchen zweier Vertragsparteien (zB. wie so oft Käufer und Verkäufer) gefragt ist, und man sich nicht sicher ist, mit welcher Vertragspartei man (am geschicktesten) in die Prüfung einsteigen soll?

Vielen Dank im Voraus für Ihre Antwort.

Mit freundlichen Grüßen

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Anonym
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Guten Tag,
vielen Dank für Ihre Frage. Das wichtigste vorab: Es ist keine Frage von "richtig" oder "falsch", in welcher Reihenfolge die Ansprüche zu prüfen sind - das können Sie im Ausgangspunkt schlicht machen, wie Sie wollen. Oft hilft Ihnen natürlich auch die Gestaltung der Fallfrage(n), indem Ihnen eine bestimmte Reihenfolge vorgegeben ist, aber darauf bezieht sich Ihre Frage nicht.
Dennoch gibt es manchmal Situationen, bei denen sich - spätestens wenn Sie Ihre Gliederung erstellen - herausstellt, dass eine Reihenfolge günstiger für die Darstellung ist als die andere, und dann empfieht es sich aus ästhetischen und zT auch aus Zeitmanagementgründen, eine bestimmte Reihenfolge zu wählen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Ansprüche in die eine Richtung vom Ergebnis der Ansprüche in die Gegenrichtung abhängen.
An einem konkreten Beispiel: Es gibt einen Kaufvertrag und die Übergabe und Übereignung der Sache wird unmöglich, gefragt ist sowohl nach den Ansprüchen des Käufers als auch nach denen des Verkäufers. Wenn Sie nun mit dem Kaufpreisanspruch des Verkäufers beginnen würden, müssten Sie fragen, ob dieser nach § 326 I 1 BGB untergegangen ist, und in diesem Rahmen inzident prüfen, ob der Lieferanspruch des Käufers gem. § 275 I BGB ausgeschlosen ist. Das könnte eine längere Inzidentprüfung werden. Falsch wäre es nicht, so zu prüfen - aber Sie würden riskieren, in den tiefen Gliederungsebenen, in die Sie dann vordringen müssten, den Überblick zu verlieren; außerdem wäre das Zeitmanagement schwieriger, weil Sie möglicherweise viel Zeit für den Anspruch des Verkäufers aufwenden würden und dann, wenn die Zeit insgesamt nicht reicht, gar nichts zu den Ansprüchen des Käufers schreiben würden.
Fangen Sie dagegen mit dem Lieferanspruch des Käufers an, prüfen Sie zunächst ganz entspannt, ob dieser nach § 275 I BGB ausgeschlossen ist. Wenn Sie das bejaht haben und die Frage nach den Ansprüchen des Käufers (vielleicht Schadensersatz gem. §§ 280 I, III, 283 BGB, vielleicht auch das stellvertretende commodum gem. § 285 BGB) abschließend beantwortet haben, können Sie die Ansprüche des Verkäufers prüfen. Im Rahmen des § 326 I 1 BGB können Sie dann für die Frage nach der Unmöglichkeit der Übergabe und Übereignung schlicht nach oben verwiesen und müssen nicht in tiefe Gliederungsebenen eintauchen. Außerdem können Sie Probleme wie § 326 III BGB (was passiert mit der Gegenleistungspflicht, wenn der Käufer das stellvertretende commodum verlangt?) überhaupt erst richtig bearbeiten, weil Sie den § 285 BGB auf Seiten des Käufers dann schon geprüft haben werden.
Kurz: Wenn es eine inhaltliche oder logische Abhängigkeit der Ansprüche in der einen Richtung A von den Ansprüchen der anderen Richtung B gibt, dann sollten Sie zuerst mit Richtung B beginnen, bevor Sie Richtung A bearbeiten. Das spart Ihnen umfangreiche Inzidentprüfungen, die eine ganz eigene "Unfallgefahr" bergen.
Beste Grüße
Prof. Dr. Thomas Riehm

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riehm01
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